Fitness, Gesundheit | Autor/in: Prof. Dr. Daniel Kaptain und Prof. Dr. Ulf Sobek |

Neuroathletiktraining in der Praxis: Gehirn und Muskel als Partner (Teil 2)

Ein optimales Zusammenspiel von visuellem, propriozeptivem und vestibulärem System bietet nicht nur Hochleistungssportlern Vorteile, denn jede Bewegung im Sport und Alltag ist vom Nervensystem als zentrale Leitstelle abhängig. Aufbauend auf den im ersten Teil dieser zweiteiligen Artikelreihe thematisierten Grundlagen werden nun Assessments, Wirkungsmechanismen und praktische Anwendungsbeispiele des Neuroathletiktrainings dargestellt.

Neuroathletik in der Praxis (2): Gehirn und Muskel als Partner

Die Grundlagen eines jeden Trainingsprozesses sind umfassende Testungen zur Erfassung des Status quo hinsichtlich der individuellen Leistungsfähigkeit. Dies spielt auch im Neuroathletiktraining (NAT) eine zentrale Rolle.

Der Trainer führt diverse Testungen durch, um die Leistungsfähigkeit des Athleten zu erfassen und mögliche Schwachpunkte aufzudecken. Sind solche Schwachpunkte bekannt, kann der eigentliche Nutzen des NAT voll zur Geltung kommen: das Beheben von neuronalen Defiziten (z. B. der Sensorik oder Propriozeption) durch eine Optimierung des Zusammenspiels von Nervensystem und Muskulatur.

Im sogenannten 8-Ebenen-Modell sind Testungen für jedes an der Bewegung beteiligte System möglich (vgl. Abb. 1). Eventuelle Ursachen für Schmerz, schlechte Haltung oder Leistung können in diese Bereiche verortet werden.

Um nicht alle acht Systeme zu testen, können auf Basis einer Anamnese spezifische Testungen ausgewählt werden, um den Fehler zu identifizieren und anschließend mit gezielten Übungen zu optimieren.

Ein beispielhafter Test auf der Rezeptorebene besteht darin, zu überprüfen, ob der Kunde auf beiden Körperseiten Wärme oder Kälte gleich wahrnimmt.

Testungen können für alle im Modell dargestellten Ebenen durchgeführt werden. Es gibt also auch Tests für das Kleinhirn bzw. die verschiedenen Bestandteile des Gehirnstammes. Anhand der Ergebnisse dieser Tests werden dann die 'Drills' ausgewählt und direkt im Anschluss wird überprüft, ob sich die Bewegungsqualität ändert. Dies kann sich in einer besseren Genauigkeit der Bewegung, einer vergrößerten Bewegungsamplitude oder in einem geringeren Schmerzempfinden darstellen. Exemplarisch wird in diesem Artikel ein Bewegungs-Assessment vorgestellt, um die Wirksamkeit der 'Drills' zu überprüfen.

Bewegungs-Assessment

Die Vorgehensweise zur Optimierung des qualitativen Zusammenwirkens des neuromuskulären Systems ist oft ähnlich. Diese Effekte beziehen sich auf eine schnellere neuronale Reizaufnahme (z. B. propriozeptive Reize bei instabilen Untergründen) und eine darauffolgend schnellere Reizantwort im Sinne einer entsprechenden muskulären Reaktion (z. B. Kontraktion der Gelenkstabilisatoren; Quante & Hille, 1999).

Im Folgenden sollen zwei Fallbeispiele eine mögliche Implementierung des NAT in die Trainingspraxis versinnbildlichen.


Beispiel 1 – Ausfallschritt-Matrix:

Ausgangslage:

  • Hobbyläuferin (Halbmarathondistanz)
  • 42 Jahre
  • Angestellte in einem Versicherungskonzern (sitzende Tätigkeit, PC-Arbeitsplatz)
  • Sprunggelenks- und Beinachseninstabilität
  • klagt über arbeits-/stressbedingte Kopfschmerzen
  • Brillenträgerin, zunehmende Sehschwäche

Vorgehensweise:

Um einer Verletzung (bspw. Supinationstraumata im Sprunggelenk; Rotationsstress Kniegelenk) während des Lauftrainings entgegenzuwirken, werden Aktivierungsübungen in das Lauf-Warm-up eingefügt. In den ersten Phasen achtet der Trainer auf die korrekte Ausführung (Beinachsenstabilität). Es wird vermutet, dass durch eine Überreizung und die damit verbundene Ermüdung des visuellen Systems durch permanente PC-Arbeit eine verlangsamte Reizaufnahme, aber auch Reizabgabe (neuromuskuläre Sprunggelenkstabilisierung) gegeben ist. Somit wirken viele Stressoren auf das Nervensystem ein, die es zu senken gilt. Um die beteiligten neuronalen Systeme zu aktivieren, werden die laufspezifischen Bewegungsmuster (Ausfallschritt) in verschiedene Bewegungsrichtungen als 'Interventionsübung' ausgewählt (vgl. Abb. 2).

Zur Fokussierung des visuellen Systems richtet die Kundin ihren Blick vor der Ausübung der Ausfallschritt-Matrix (wie auch im späteren Trainingsverlauf während der Ausführung) auf einen vom Trainer gehaltenen Gegenstand (bspw. einen Kugelschreiber). Dadurch wird das visuelle System aktiviert.

Bei dieser Vorgehensweise, die sowohl ein Assessment als auch eine Trainingsintervention darstellt, geht es primär darum, die Bewegungsqualität der Kundin zu erfassen und einen Vergleich bei der Ausführungen durch beide Körperseiten wie auch Bewegungsrichtungen (0° bis 315°) messbar zu machen.

Hierbei ist darauf zu achten, dass v. a. die Wirbelsäule gestreckt und aufgerichtet bleibt. Durch die Kombination einer unilateralen Bewegung (Instabilität) mit einer gleichzeitigen WS-Extension (Stabilität) wird das Zusammenspiel getestet und ein direkter Rechts-Links-Vergleich ermöglicht. Ziel ist es, durch eine Aktivierung der neuronalen Systeme eine optimierte muskuläre Gelenksicherung zu gewährleisten. Damit dient dieses Beispiel eines Warm-ups auch zur Erfassung des derzeitigen Leistungszustandes und sollte bei der Trainingsintensität und Komplexität (bspw. Lauftempo und Laufstrecke/Laufuntergrund) berücksichtigt werden.


Beispiel 2 – Sprunggelenksaktivierung:

Ausgangslage:

  • Profi-Eishockeyspieler (DEL2)
  • vor sechs Wochen Schulterprellung durch Gegnereinwirkung (Bodycheck) im Spiel
  • seitdem eingeschränkte Belastbarkeit (ROM-reduziert und Schmerzen bei Kompression 60 Prozent des üblichen Trainingsgewichtes beim Bankdrücken)
  • laut medizinischem Befund keine Beeinträchtigung des Gewebes (Schwellung o. Ä.) ersichtlich, daher aus medizinischer Sicht belastbar

Vorgehensweise:

Um eine ausreichende Trainings- und Spielbelastbarkeit herzustellen, soll zuerst eine uneingeschränkte Schulterbeweglichkeit und eine hiermit verbundene muskuläre Ansteuerung ermöglicht werden.

Um die Wirksamkeit des Neuroathletiktrainings zu überprüfen, wird bei diesem Fallbeispiel in jeder Einheit zuerst der Ausgangswert der Schulterbeweglichkeit bestimmt (Pre-Test).

1. Pre-Test: Innen-/Außenrotation (vgl. Abb. 3) für Schulter rechts/links

Hier wird das Bewegungsausmaß (ROM) genau analysiert und dokumentiert.

Daraufhin erfolgt die eigentliche Intervention in Form einer Aktivierung des Sprunggelenks, die dem neuronalen 'Warm-up' dient, um sowohl die Propriozeptoren (Sprunggelenke) als auch die neuromuskuläre Ansteuerung im Bereich der Schulter- und Rumpfmuskulatur zu aktivieren.

Laut Vermutung soll durch die Reizaufnahme über die Rezeptoren am Sprunggelenk eine Aktivierung des Zentralen Nervensystems (ZNS) erfolgen, um diesem die Information über Kontrolle und Stabilität zu liefern.

Ein kürzlich verletztes Gelenk (z. B. Schultergelenk) wird durch neuromuskuläre Mechanismen vor einer Wiederverletzung oder einer Verschlimmerung des Schadens geschützt. Allerdings geht mit diesem Schutzmechanismus auch eine Beweglichkeitseinschränkung einher, wodurch die Funktionalität des betroffenen Gelenks gehemmt wird. Daher ist ein Abbau dieser Hemmungen zur Wiederherstellung der Funktionalität unvermeidlich.

Über diesen Wirkmechanismus soll demnach eine Intervention in Form einer Sprunggelenksaktivierung die Beweglichkeit im Schultergelenk positiv beeinflussen können. Dadurch reagiert das zentrale Nervensystem ganzheitlich und eine Verringerung der empfundenen Bedrohung führt zu einer Verbesserung der Funktionalität.

2. Intervention: Durch den „Toe Pull“ (vgl. Abb. 4) soll eine Verbesserung der Funktionalität hervorgerufen werden.

Als eigentliche Intervention gilt der sogenannte 'Toe Pull', der in drei Richtungen ausgeführt werden kann und bei dem das Sprunggelenk im und entgegen dem Uhrzeigersinn rotiert wird. Diese Übung (aktiv geschlossene Kette mit hohem Alltagstransfer, bspw. beim Laufen) soll den Zusammenhang und die Bedeutung der Gelenkrezeptoren am Sprunggelenk verdeutlichen.

In der Regel ist der Fuß der erste Kontaktpunkt des Organismus bei der Fortbewegung. Alle von diesen Rezeptoren aufgenommenen Reize und Informationen müssen schnellstmöglich über die afferenten Leitbahnen zum ZNS gelangen, von dort aus werden sie als Grundlage für sensomotorische Impulse an die entsprechenden (gelenkstabilisierenden) Muskeln in den unteren Extremitäten (v. a. Sprunggelenk) geleitet. Arbeitet dieses System perfekt, ermöglicht es ein Optimum an posturaler Kontrolle und bei der Reaktion auf schnelle Richtungswechsel (bspw. Agilität).

3. Re-Test: erneut und exakt reproduzierte Durchführung der Schulterinnen- und -außenrotation (vgl. Abb. 3)

4. Auswertung: Nun wird der Vorher-Nachher-Vergleich im Kontext von Bewegungsradius und Bewegungsqualität analysiert.

Hat sich das Bewegungsbild von pre zu post verbessert, so ist die Intervention bezogen auf den Sportler und seine Symptomatik produktiv und sollte als Warm-up-Übung in den darauffolgenden Trainingseinheiten Verwendung finden, vor allem, wenn der Fokus auf Stabilität und sensorische Qualität in der Region der unteren Extremität liegt.


Allgemeine Konsequenzen für die Praxis

Neben den beiden dargestellten Beispielen dienen die Strategien im Allgemeinen als Möglichkeiten, das neuromuskuläre System auf die im Training anstehenden Belastungen vorzubereiten und die limitierenden Faktoren zu mindern. Der Trainer übernimmt hierbei zwei Aufgaben: zum einen die Bewertung der Ausführung, zum anderen die Ableitung von Konsequenzen für die anschließenden Trainingsinhalte.

Die Erkenntnisse aus den Testungen werden analysiert und es werden mögliche Ursachen recherchiert. Oft ist eine zurückliegende Verletzung der Grund für funktionale Defizite, die zu einer Vermeidungs- bzw. Schonhaltung und somit zur Störung bestimmter Bewegungsmuster führen.

Auch sind grundsätzliche Schwächen in der Sensorik gerade heutzutage keine Seltenheit mehr, da durch Bewegungsmangel sowie die immense Zunahme der PC- und Smartphone-Nutzung die Augen überbeansprucht und die allgemeine körperliche Belastbarkeit herabgesetzt wird. Dies führt zu einer Reduktion der Fähigkeit zur Reizaufnahme, -verarbeitung und -reaktion des neuronalen Systems.

Die identifizierten Schwachpunkte werden nunmehr in das Warm-up der kommenden Trainingseinheiten übertragen und geübt, bis der Sportler seine ursprüngliche Bewegungsqualität wiederhergestellt hat.

Des Weiteren kann ein neuronales 'Warm-up' leistungssteigernde Effekte hervorrufen (Cilli et al., 2014).

Die hier dargestellten Testungen/Übungen bieten einen ersten Eindruck der Möglichkeiten und Strategien zur praktischen Anwendung. Daher sollen die hier präsentierten Verfahren nur als einführende und exemplarische Darstellung des NAT verstanden werden.

Fazit

Neuroathletiktraining ist die konsequente Weiterentwicklung der Kernfähigkeiten des Nerven-Muskel-Systems. Gerade heutzutage, wo einerseits verstärkt Bewegungsmangel in Beruf und Alltag herrscht und andererseits immer intensivere, komplexere und schnellere sportliche Leistungen im Wettkampf gefordert werden, nimmt das NAT eine entscheidende Rolle im Kontext der Leistungssteigerung ein. Weitere Anwendungsgebiete finden sich in der Schmerztherapie und in der Verbesserung der Haltung.

Über die Autoren

Professor Dr. Daniel Kaptain ist u. a. Dozent an der Deutschen Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement (DHfPG) und der BSA-Akademie. Er promovierte im Fachbereich Sportwissenschaften. Darüber hinaus ist er Experte für Konditions- und Athletiktraining sowie ausgebildeter Trainingstherapeut.

Professor Dr. Ulf Sobek ist Dozent an der Deutschen Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement (DHfPG) und BSA-Akademie sowie Fitnesstrainer der U-20- und U-19-Fußballnationalmannschaft. Der Sportwissenschaftler war als Co- und Athletiktrainer des 1. FC Saarbrücken und 1. FC Köln tätig, wo er 2011 die Deutsche Meisterschaft der U17 gewann.

Mehr zum Thema Neuroathletiktraining

In Teil 1 unserer zweiteiligen Artikelreihe über NAT widmeten sich unsere Experten den Grundlagen, Hintergründen und Zielsetzungen des Neuroathletiktrainings.


Auszug aus der Literaturliste

Cilli, M., Gelen, E., Yildiz, S., Saglam, T. & Camur, M. (2014). Acute effects of a resisted dynamic warm-up protocol on jumping performance. Biology of Sport. 31(4), 277–82.
Quante, M. & Hille, E. (1999). Propriozeption: Eine kritische Analyse zum Stellenwert in der Sportmedizin. Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin, 50 (10), 306–310.

Für eine vollständige Literaturliste kontaktieren Sie bitte marketing@dhfpg-bsa.de.

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