Medizinische EMS bietet einen echten Benefit
Physiotherapeut Volker Sutor erläutert im Interview die Vorteile Medizinischer EMS bei der Behandlung von Patienten, ihre verschiedenen Anwendungsgebiete und Wirkungsmöglichkeiten.
mfhc: Was sind die Besonderheiten Medizinischer EMS? Wo liegen die entscheidenden Unterschiede zu „herkömmlichem“ EMS-Training?
Volker Sutor: Wir arbeiten mit den gleichen Geräten. Der Unterschied liegt aber im Einsatzbereich und in der Zielrichtung sowie in der Steuerung der Übungen. Physiotherapeuten nutzen Medizinische EMS, wenn Patienten mit Pathologien beziehungsweise klinischen Problemen wie Schmerz, Bewegungseinschränkungen, Funktions- und Kraftverlust zu ihnen kommen. In der Physiotherapie gehen wir immer von der Frage aus: Was ist das Alltagsproblem? Dann wählen wir gezielt Übungen aus, die ein funktionelles Problem bzw. Defizite eines Krankheitsbildes verbessern sollen und vom Schwierigkeitsgrad und der Intensität her genau zum Zustand des Patienten passen. Die Übungsfolge muss sinnvoll gestaltet sein und erfordert genaue Planung.
Im nicht Medizinischen EMS, also im Fitnessbereich, verfolgen die Trainierenden ganz andere Ziele. Hier stehen Fitness, Bodyshaping oder auch Kraft- und Muskelmasseaufbau im Vordergrund. Es werden darauf zugeschnittene Trainingsprogramme absolviert.
Wie wird Medizinische EMS in Ihrer Praxis konkret eingesetzt?
Wir setzen Medizinische EMS regelmäßig als Bestandteil in Einzeltherapien und in der Zwei-zu-eins-Betreuung ein. Dabei kann die Medizinische EMS sowohl alleiniger als auch ergänzender Bestandteil der Therapie sein. Grundsätzlich gibt es zwei verschiedene Bereiche: die lokale Stimulation, bei der nur einzelne Muskeln angesprochen werden und die Ganzkörperstimulation. Wir nutzen beides.
Wie häufig wird sie angewendet? Kommt sie allein oder in Kombination mit anderen Behandlungen zum Einsatz?
In der Regel erfolgt die Anwendung einmal pro Woche, so die Vorgabe. Beim Einsatz der Medizinischen EMS in der Physiotherapie geht es klassischerweise größtenteils um Muskelaktivierungen zur Rückgewinnung von Kraft oder Muskelmasse. Als Ergänzung wird sie meist zusätzlich zu mobilisierenden oder schmerzlindernden Maßnahmen eingesetzt.
Was sind die Vorteile gegenüber anderen Behandlungsmethoden?
Viele Patienten können ihre Muskulatur nicht mehr ausreichend intensiv aktivieren. Das heißt, sie schaffen es nicht, willkürlich eine derart hohe Muskelanspannung aufzubauen, dass sie bestimmte Schwellenwerte erreichen, die Verbesserungen bewirken. Durch die elektronische Muskelstimulation ist es möglich, diesen Reiz von außen zu setzen. Mit Medizinischer EMS kann ich Muskelfasern wieder aktivieren, die der Patient willkürlich nicht erreichen würde. Damit kann ich die Muskulatur in eine Bewegung integrieren, die er sonst nicht schaffen würde. Das ist der entscheidende Vorteil.
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Für welche Patientengruppe eignet sich Medizinische EMS vor allem?
Aus der Forschung wissen wir, dass fast jeder Patient nach Schmerzzuständen, Verletzungen oder Operationen Schwierigkeiten hat, die betroffene Muskulatur wieder ausreichend zu aktivieren. Die meisten Patienten können das durch ein adäquates Training wieder erreichen, vielen ist es aber auch unmöglich. Diese Entwicklung lässt sich nicht vorhersagen und liegt nicht unbedingt am Alter oder Fitnesslevel. Selbst Hochleistungssportler schaffen es beispielsweise nach einer Kreuzbandverletzung teilweise nicht, willkürlich die Muskulatur des Oberschenkelmuskels wieder zu aktivieren. Dabei hilft dann der Strom. Die Patientengruppe ist also sehr groß und umfasst alle Menschen mit Aktivierungsproblemen, ebenso wie ältere Menschen.
Welche Krankheitsbilder lassen sich besonders effektiv mit Medizinischer EMS behandeln?
Für lokale und Ganzkörpermuskelstimulation gibt es vielfältige Einsatzfelder. Überall, wo Durchblutung, Stoffwechsel, Kraft und Muskelmasse bei Pathologien eine Rolle spielen, kann sie zur Optimierung der Therapie eingesetzt werden. Somit ist sie bei fast allen orthopädischen, neurologischen und internistischen Pathologien sinnvoll nutzbar. Es gibt eine klare Evidenz für die Wirkung bei der Behandlung von Rückenschmerzen und Sarkopenie. Letzteres bezeichnet den Schwund von Muskelmasse, der bei älteren Menschen mit Kraft- und Funktionsverlust sowie oft mit vermehrter Fetteinlagerung einhergeht. Diese Erkrankung ist relativ unbekannt, aber extrem weit verbreitet. Man nimmt an, dass daran 10 bis 20 Prozent der über Sechzigjährigen und 50 Prozent oder mehr der über Achtzigjährigen erkrankt sind – eine Riesengruppe, die mit zunehmender Überalterung der Bevölkerung wächst.
Diese Patienten können nicht mehr schnell gehen, haben zu wenig Handkraft und Schwierigkeiten im Alltag. Treppensteigen ist erschwert, sie sind hilfsbedürftig, benötigen Hilfsmittel wie einen Rollator und dementsprechend auch Unterstützung und Pflege zu Hause. Das ist natürlich ein hoher Kostenfaktor. Es gibt eine gute Evidenz, dass medizinische Muskelstimulation hier den Verlust von Muskelmasse reduzieren, stoppen und teilweise sogar umkehren kann.
Welche Rolle spielt der Physiotherapeut bei der Behandlung?
Der Physiotherapeut spielt in der praktischen Applikation und der Durchführung eine ganz wesentliche Rolle. Er ist derjenige, der diese Methode auswählt und dann das Programm passend auf den Patienten zuschneidet. Die individuelle Belastung und Belastbarkeit des Patienten müssen übereinstimmen, dafür sucht der Therapeut die richtigen Übungen aus und plant ihren Aufbau entsprechend.
Wie verbreitet ist Medizinische EMS mittlerweile in der Therapie?
Erstaunlicherweise spielt Medizinische EMS aktuell noch eine zu geringe Rolle in der Behandlung, obwohl viele wissenschaftliche Arbeiten hier eine gute Evidenz sowohl in der lokalen als auch globalen Anwendung belegen. Mit Medizinischer EMS erreicht man Effekte, die sich mit anderen Therapieformen unter Umständen nicht erreichen lassen, sie bietet also einen echten Benefit.
Viele Physiotherapeuten schrecken trotzdem davor zurück, sich ein EMS-Gerät anzuschaffen, weil ihnen das Wissen über diese Therapiemaßnahme und ihre Anwendungsmöglichkeiten fehlt. Ich finde es sehr schade, dass man dadurch eine gute therapeutische Möglichkeit verliert. In modernen Praxen sollte man heute auch medizinische EMS finden.
Welche Rolle wird Medizinische EMS aus Ihrer Sicht in Zukunft in der Physiotherapie spielen?
Ich glaube, dass sie in Zukunft eine ganz wichtige begleitende Therapieform sein wird, sowohl lokal als auch global. Aktives Training mit Medizinischer EMS halte ich für sehr wichtig und extrem zielführend. Es sollte daher eine deutlich größere Rolle einnehmen als aktuell. Wenn die Therapeuten selbst die Vorteile der Anwendung gesehen haben, werden sie es auch stärker nutzen.
Was muss aus Ihrer Sicht getan werden, damit mehr Therapeuten und Patienten diese Therapieform kennenlernen?
Hier geht es zuerst um PR- und Marketingmaßnahmen vonseiten der Hersteller in Richtung der Therapeuten. Es muss stärker positiv nach außen kommuniziert werden, wie effektiv diese Therapiemaßnahme ist und wie breit gefächert die Anwendungsmöglichkeiten sind. Die Problematik – Aktivierungsprobleme, Kraft- und Muskelmassendefizit – ist weit verbreitet und betrifft viele Patientengruppen, z. B. ältere Menschen mit Osteoporose oder Hüftprothese, Patienten mit Rückenschmerzen oder Kreuzbandriss. Auch die Neurologie, also z. B. Patienten mit Schlaganfall, ist ein breites Feld, das von dieser Therapieform profitieren kann.
Therapiepraxen, die mit Medizinischer EMS arbeiten, sollten sich ein kluges Vermarktungsmodell überlegen, um ihr Angebot bekannt zu machen. Sie können mit wenig Platz sowie geringem Zeit- und Geldaufwand zusätzliche Einnahmen generieren. Mit EMS lassen sich im Anschluss an die Therapie die Patienten in den Medical-Fitness-Bereich überführen. Dieses Modell ist auch für Praxen geeignet, die keinen großen Trainingsbereich haben und eine sehr persönliche Trainingsbetreuung gewährleisten wollen.
Über den Interviewpartner
Volker Sutor ist Physiotherapeut (M. Sc., B. Sc.) und Sporttherapeut. Er unterrichtet seit vielen Jahren in der Fort- und Weiterbildung im Bereich Manuelle Therapie und KGG/MTT und ist Inhaber mehrerer interdisziplinär ausgerichteter Therapiezentren.
Seit 2010 betreibt er mit Kollegen die Fort- und Weiterbildungsinstitution Fortbildungen für Orthopädische Medizin und Manuelle Therapie – DIGOTOR GbR, an der er als Geschäftsführer und Dozent tätig ist.
Darüber hinaus fungiert Volker Sutor als Honorarlehrkraft an verschiedenen Universitäten und Ausbildungsstätten für Physiotherapie im In- und Ausland, seit 2013 auch in China.
Sein Interessenschwerpunkt ist die evidenzbasierte Praxis. Als Fachautor hat er in zahlreichen Publikationen, Büchern und physiotherapeutischen Fachzeitschriften veröffentlicht und gemeinsam mit Frank Diemer die Bücher „Praxis der medizinischen Trainingstherapie“ Band I und II verfasst.
Diesen und weitere Artikel finden Sie in der mfhc 02/2021 & für Abonnenten EXKLUSIV vorab.
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