Fitness, Gesundheit | Autor/in: Albert Busek |

Oliver Schmidtlein: Der „Mann mit dem Gummiband“

Während der Vorbereitung der deutschen Fußballnationalmannschaft auf die Heim-WM 2006 machte ein neues Trainingssystem bundesweit Schlagzeilen. Auch die TV-Sender strahlten zur besten Sendezeit Beiträge über eine neue Methode aus, bei der austrainierte Fußballprofis im Entengang mit dem Deuserband® über den Platz watschelten. Das in den USA entwickelte System wurde hierzulande mehrheitlich abgelehnt, ja als lächerlich empfunden. Ein deutscher Physiotherapeut stand plötzlich bundesweit im Mittelpunkt der Medien und wurde zum „Mann mit dem Gummiband“: Oliver Schmidtlein. Fitnessikone Albert Busek kennt ihn seit über dreißig Jahren und führte mit ihm ein Interview.

Interview Oliver Schmidtlein

Oliver Schmidtlein wurde am 24. Juni 1965 in Bamberg geboren. Er gilt als einer der erfahrensten Physiotherapeut:innen, Rehatrainer:innen und Fitnesscoach:innen im deutschen Fußball. Darüber hinaus betreute er unter anderem Boris Becker, Katarina Witt und Franziska van Almsick. Viele Jahre lang war er für den FC Bayern München, den TSV 1860 München, die U 21-Nationalmannschaft und die deutsche Fußballnationalmannschaft tätig und trug entscheidend dazu bei, die Strukturen im deutschen Profifußball zu modernisieren. Seit 2008 betreibt er mit OSPHYSIO® training & therapie eine eigene Praxis für Physiotherapie und Rehabilitation.

Erste Ideen zum Functional Training hatte Oliver Schmidtlein bereits in den Neunzigerjahren, als er zunächst die U 21-Nationalmannschaft betreute und dann mit dem legendären Hans-Jürgen Montag zusammenarbeitete, den er als seinen Mentor bezeichnet. Zweifellos ist er einer der Vorreiter:innen des Functional Trainings in Deutschland, wenn nicht sogar DER Visionär schlechthin.

Schmidtleins Functional Training

Seit 2008 ist Oliver Schmidtlein mit eigener Praxis in München höchst erfolgreich und hat nie aufgehört, sein Trainingskonzept weiterzuentwickeln, aus dem schließlich „Schmidtleins Functional Training“ entstand.

In den Folgejahren ließ Oliver Schmidtlein neue Erkenntnisse in sein Konzept einfließen und erweiterte die Leistungen in seiner Praxis kontinuierlich. Heute bilden diese drei Säulen sein ganzheitliches Konzept, um Menschen fit zu machen und diese Fitness dann nach persönlichen Zielsetzungen weiterhin dauerhaft zu fördern und zu betreuen: Physiotherapie, Rehabilitation, Training!


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Bis zum Beginn der Pandemie Anfang 2020 hat die Fitness- und Gesundheitsbranche eine höchst erfolgreiche Entwicklung erlebt und steht jetzt vor der größten Herausforderung seit ihren Anfängen vor über 60 Jahren. Ich habe mit Oliver Schmidtlein über sein Gesamtkonzept und die aktuelle Situation gesprochen.

Albert Busek: Das Deuserband® und ähnliche Bänder gab es schon viele Jahre vorher. Was war zu Beginn bei deinem ursprünglichen Ansatz des Functional Trainings anders und was umfasst es für dich heute?

Oliver Schmidtlein: Tatsächlich waren Gummibänder schon lange vor dem Functional Training Trend bekannt. Eigentlich kannte man sie mehr aus dem therapeutischen Kontext. Therabänder waren hauptsächlich für das Eigentraining der Patient:innen zu Hause im Einsatz. Das ist auch heute noch so.

Hinzugekommen ist die Idee ihrer Verwendung im Leistungssport, als man sie auf dem Platz oder in der Trainingshalle bei Ballsportarten einsetzte. Hier sah man hauptsächlich die kleinen Gummischlaufen, die Sportler:innen um beide Unterschenkel oder Kniegelenke trugen.

Auch wenn diese Übungen anfangs lächerlich gemacht wurden, so ergaben sich durch diese alte und neue Idee wegen der einfachen Logistik mehr Möglichkeiten. Auf diese Weise hat man einige gezielte Übungen in Warm-ups oder „On-Field Athletikeinheiten“ einbauen können, ohne in den damals ungeliebten Kraftraum gehen zu müssen – falls es überhaupt einen gab. Man konnte mit der ganzen Mannschaft gleichzeitig Übungen machen.

Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. In der  kommerziellen Fitnessszene wurden fortan spezielle Bungees und kräftige Gummischlaufen (in der Länge des Deuserbandes®, wie ein 28 Zoll Fahrradschlauch) eingesetzt, mit denen man explosive Bewegungen gegen Widerstand trainieren kann.

Gummibänder haben für mich immer noch vorwiegend logistische Vorteile. Man kann sie überall hin mitnehmen, sie sind leicht. Auf Reisen habe ich immer einen Beutel mit einer Auswahl dabei. Wenn ich in einem Gym bin, verwende ich aber höchstens mal ein Miniband um die Knie bei Kniebeugen. Sonst bevorzuge ich dort Geräte und Gewichte.

Du hast deine Praxis vor zwei Jahren um eine top ausgestattete Trainingsabteilung erweitert und bietest damit sozusagen Functional Fitness Plus an. Was hat dich zu diesem Schritt bewogen?

Wir sind eine Physiotherapiepraxis, in der die Rehabilitation nach Verletzungen und OPs einen Schwerpunkt darstellt. Dort begleiten wir Menschen zurück in ihre Alltagsaktivitäten. Das bedeutet, dass wir auf deren sportliche Zielfunktion eingehen müssen. Um das Niveau zu erreichen, brauchten wir mehr Platz und auch ein paar zusätzliche Geräte.

Uns war es wichtig, Freizeit- oder Profisportler:innen bis zur „On-Field Rehab“ zu bringen. Damit ist gemeint, dass sie beispielsweise mit ihrem Ball auf dem Platz wieder erste Trainingseinheiten absolvieren können. In der Endphase einer Reha unterscheidet sich das Training kaum vom Fitness- oder Performancetraining.

Wir haben vielleicht ein paar mehr Stangen an der Decke und ein paar Geräte, die es im Fitnessstudio so nicht gibt. Dazu braucht man auch eine:n ausgebildete:n Trainer:in. Deswegen ist unser Gym jetzt auch ein guter Raum für Personal Training und Athletiktraining für Gesunde.


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Du hast schon als junger Mann gern in Fitnessstudios trainiert und bist auch als Best Ager in Topform und trainierst selbst regelmäßig. Wie gestaltest du dein persönliches Training?

Ich fahre gern Rennrad. Das habe ich schon im Alter von 20 Jahren gemacht. Aber jetzt kann ich mir vernünftiges Material leisten. Das macht Spaß und ich habe nach dem Sommer wieder mein Idealgewicht. Im Gym trainiere ich gefühlt zu wenig und manchmal nicht regelmäßig genug.

Da geht es mir phasenweise wie jedem anderen Menschen meines Alters. Manchmal fehlt im Alltag der Antrieb. Ich habe den Vorteil, alles vor der Nase zu haben und zu wissen, wie wenig es braucht, um sich danach besser zu fühlen. Dazu brauche ich die Umgebung eines Studios. Das motiviert mich.

Während der Woche gehe ich dann auch eher in das Fitnessstudio, das hier um die Ecke angesiedelt ist. Da kann ich ohne Ablenkung 45 bis 60 Minuten für mich sein. Die Übungen, die ich bei meinen Workouts auswähle, würde ich als Basisübungen bezeichnen.

Zu Beginn ist es immer ein kleiner Zirkel mit dem Körpergewicht und auf der Matte. Dabei geht es um Mobilität, Stabilisation und Aktivierung. Danach folgen ein bis zwei Beinübungen und vier bis fünf Oberkörperübungen mit Kurzhanteln, Klimmzugstange und Zugapparat. Ich versuche, mir durch das Training einen Grundstock an Beweglichkeit, Kraft und Stabilität zu erhalten. Es geht ja nicht um Leistung, sondern um Gesundheit. Dazu braucht es nicht viel.

Die Bedeutung des partiellen Muskeltrainings wurde lange unterschätzt. Welche Erfahrungen hast du diesbezüglich auf deinem beruflichen Weg gemacht?

Das ist eine sehr gute Frage, denn der Hype um CrossFit® und Functional Training haben uns lange Zeit vergessen lassen, welchen Zweck das isolierte Training erfüllt. Durch meine persönliche Erfahrung mit vielen, vielen Patient:innen und durch zahlreiche fachliche und wissenschaftliche Veröffentlichungen bin ich mehr denn je davon überzeugt, dass isoliertes Training eine große Bedeutung hat.

Es ist aus der Rehabilitation von orthopädisch-traumatologischen Gesundheitsproblemen nicht mehr wegzudenken.

Auch bei beschwerdefreien Personen kann dieses Training sinnvoll sein, um zum Beispiel die Dominanz einer Muskelgruppe durch gezieltes Training der „Gegenspieler“ auszugleichen. Für mich besteht das perfekte Training aus einer Mischung aus isoliertem Training mit Basisbewegungsmustern, die jeder Mensch können sollte.

Du hast viele erfolgreiche und berühmte Sportler:innenin Therapie und Training betreut. Was waren dabei für dich die größten Herausforderungen und warum?

Die größte Herausforderung war es, die Spieler:innen im Training etwas für sie Unbeliebtes machen zu lassen. Spielsportler:innen waren es noch vor 15 bis 20 Jahren nicht gewohnt, außerhalb des Platzes auch konsequent Übungen zu machen.

Da wurde immer wieder diskutiert, zum Beispiel am Tag nach einem Spiel in den Regenerationsabläufen. Heute ist alles, was damals ein Kampf war, selbstverständlich. Gut für die Kolleg:innen, die jetzt da sind.


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Du bist auch einer der führenden Experten des Functional Movement Screenings (FMS) und hältst seine Aussagekraft für die korrekte Ausführung der Übungen für äußerst wichtig. Warum?

Ich habe mit den Amerikaner:innen um Mark Verstegen in Deutschland 2004 mit dem Functional Movement Screen angefangen. Jetzt bin ich nicht mehr im „Inner Circle“ der FMS Leute. In der Praxis verwende ich mittlerweile ein eigenes Testszenario. Aber das Gedankengut, das hinter dem FMS steckt, vertrete ich mit Überzeugung.

Um bestimmte Bewegungen sauber ausführen zu können, braucht es ein Mindestmaß an Beweglichkeit und Stabilität. Mit einem Screening (= einfache Testbatterie) kann man das gut und schnell feststellen. Durch Retraining kann man dann viele Funktionen verbessern.

Der Flexibilität und Balance des Körpers räumst du eine hohe Priorität ein. So manche:r Topsportler:in erlebte bei dir dabei seine:ihre persönliche „Stunde der Wahrheit“. Was sind deine Gründe dafür?

Ich würde Flexibilität eher weiter fassen als Beweglichkeit. Das schließt die Gelenkbeweglichkeit mit ein, die ja nicht nur durch Muskeln begrenzt wird. Gelenkbeweglichkeit in einem natürlichen Maß ist die Voraussetzung für eine gesunde Steuerung der Muskulatur.

Die Gelenke haben Rezeptoren, die über das Nervensystem Einfluss auf die Ansteuerung der Muskulatur nehmen. Das heißt, Beweglichkeit und Stabilität stehen in engem Zusammenhang. Das eine bedingt das andere. Das hat zum einen mit der Gesundheit zu tun, zum anderen mit der Leistungsfähigkeit. Und beides muss eine:n Sportler:in interessieren. Hat es auch meistens.

Wie stark war deine Praxis von der Pandemie betroffen und wie schätzt du die überschaubare Zukunft für die gesamte Fitness- und Gesundheitsbranche ein?

Geplantes Wachstum durch die Erweiterung der Praxis hat nicht stattgefunden. Wir durften glücklicherweise während der Lockdown-Phasen weiterarbeiten. Meine Mitarbeiter:innen waren so gut wie nicht in Kurzarbeit. Wir wollten gern für die Menschen da sein, die sich trauten, zu uns zu kommen. Also haben wir auch ohne Auslastung die Arbeitszeiten nicht dauerhaft gekürzt.

Der Inhalt unserer Arbeit war durch die Situation anders als sonst. Es gab keine Sportverletzungen und OPs wurden, wenn es kein Unfall war, verschoben. Damit fielen auch die nötigen Nachbehandlungen und Rehaeinheiten dafür weg. In diesen Monaten kamen aber Patient:innen deutlich öfter, die wir sonst mit eher unspezifischen Problemen in größeren Zeitabständen sehen.

Dadurch hatten wir eine Belegung, mit der die Physiotherapiepraxis überleben konnte.

Für die Fitnessbranche bin ich grundsätzlich optimistisch. Es wird einige Zeit dauern, bis sich die Menschen wieder trauen, in geschlossenen Räumen nah an anderen Menschen zu sein. Aber die Gesundheitsbranche, und zu der zähle ich die Fitnessindustrie, wird ordentlich zulegen. Wenn die Impfquote weiter steigt und sich die Gefahren und Ängste verziehen, wird Fitness wieder boomen. Wir brauchen noch etwas Geduld. Dann geht es steil aufwärts.

Was ist dir sonst noch wichtig?

Ich danke dir für das Gespräch. Als ich vor 30 Jahren nach München kam, habe ich bei dir trainiert. Das war für mich wichtig – ein kleines Stück L. A. in München.

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