fMi: Viele Menschen setzen Beweglichkeitstraining mit Dehntraining gleich. Ist diese Gleichsetzung korrekt?
Johanna Kummer: Viele Trainierende denken beim Thema Beweglichkeitstraining sofort an ein klassisches Dehnen, also an das langsame Einnehmen einer Dehnposition, die entweder statisch gehalten oder dynamisch ausgeführt wird. Wichtig ist jedoch zu verstehen, dass Beweglichkeitstraining weit mehr umfasst als nur diese eine Methode: Beweglichkeitstraining ist also nicht nur Dehntraining! Neben dem klassischen Dehntraining gibt es weitere Trainingsformen, die je nach Zielsetzung sinnvoller oder effektiver sein können.
Eine weitere effektive Trainingsmethode des Beweglichkeitstrainings ist das sogenannte Muskellängentraining. Dabei handelt es sich um eine Form des Krafttrainings, das entweder über die volle Bewegungsamplitude betont exzentrisch oder isometrisch bei langer Muskellänge durchgeführt wird. Muskellängentraining kann an stationären Geräten, mit einem gerätegestützten Mobility-Zirkel, mit Kleingeräten oder im Freihantelbereich umgesetzt werden – und verdeutlicht damit die Vielseitigkeit dieser Trainingsmethode.
Auch andere Trainingsmethoden im Bereich der Beweglichkeit zeichnen sich durch hohe Flexibilität aus – sowohl hinsichtlich des Einsatzortes als auch der verwendeten Hilfsmittel. Ob outdoor, als Kurskonzept oder auf der Trainingsfläche: Beweglichkeitstraining lässt sich sehr variabel gestalten. Zum Einsatz kommen dabei unterschiedlichste Geräte – von Kleingeräten wie Resistance-Bändern, Faszienrollen und -bällen bis hin zu Yogaequipment wie Blöcken und Gurten.
Sitzen gilt als das neue Rauchen. Wie wichtig ist daher ein kontinuierliches Beweglichkeitstraining, um dem Risikofaktor Bewegungsmangel entgegenzuwirken?
Viele Menschen erreichen die gesundheitsfördernden Bewegungsempfehlungen der WHO nicht, da ein zunehmend bewegungsarmer Alltag zu generellem Bewegungsmangel führt. Dieser Bewegungsmangel und die stereotypischen Alltagsbelastungen, wie z. B. Sitzen, Stehen oder Belastungen mit einseitigem Bewegungscharakter, sorgen dafür, dass die Muskel-Gelenk-Systeme nicht mehr über die vollen physiologischen Bewegungsamplituden mobilisiert werden. In der Folge passt sich die Dehnfähigkeit an die Erfordernisse im Alltag an, was zu Beweglichkeitsdefiziten in Form von Bewegungseinschränkungen in der entsprechenden Muskulatur führt. Um solchen Defiziten entgegenzuwirken und die volle Bewegungsamplitude der Muskel-Gelenk-Systeme wiederherzustellen, ist es sinnvoll, gezieltes Beweglichkeitstraining in den Trainingsalltag zu integrieren.
Training zur Verbesserung der Beweglichkeit wird oftmals unterschätzt.
Johanna Kummer
Obwohl die Beweglichkeit während der Pubertät in der Regel ihr Höchstmaß erreicht und somit im Kindes- und Jugendalter gut ausgeprägt sein sollte, zeigen sich dennoch häufig Einschränkungen. Ursachen dafür können sowohl eine einseitige körperliche Belastung, z. B. durch die Ausübung einer bestimmten Sportart oder das Spielen eines Instruments, als auch ein insgesamt bewegungsarmer Alltag sein. Daher sollte auch bei Kindern und Jugendlichen ein gezieltes Beweglichkeitstraining in Betracht gezogen werden.
Entscheidend ist, dass je nach Zielgruppe und Zielsetzung die passende Trainingsform gewählt wird. Manche favorisieren Kursformate wie Yoga und insbesondere Pilates, die Kraft und Beweglichkeit kombinieren. Kraftsportlerinnen und Kraftsportler hingegen können von einem Muskellängentraining oder dem bewegungsvorbereitenden Einsatz von Faszienrollen und -bällen im Warm-up profitieren. Auch für Kinder gibt es mittlerweile speziell konzipierte Yogaangebote, die spielerisch und altersgerecht gestaltet sind. Ebenso können schwangere Frauen oder Mütter nach der Geburt von Formaten wie Schwangerschaftsyoga oder -Pilates profitieren. Wichtig ist, dass das Angebot auf die individuellen Ziele und Bedürfnisse der jeweiligen Person abgestimmt ist.
Viele Trainierende fokussieren sich auf Kraft- und Ausdauertraining, während Beweglichkeitstraining oft vernachlässigt wird. Wie kann der Nutzen besser vermittelt werden, um Vorurteile abzubauen und die Motivation zu fördern?
Mitglieder nennen häufig Trainingsziele, die vor allem durch Kraft- oder Ausdauertraining erreicht werden. Dabei stehen meist ästhetische Ziele im Vordergrund, wie etwa Umfangsveränderungen zur Körperformung, was z. B. durch Muskelaufbau erzielt werden kann. Problematisch ist jedoch, dass vielen Kunden die Effekte und der individuelle Nutzen eines Beweglichkeitstrainings nicht bekannt sind. Daher wird selten gezielt nach einem entsprechenden Trainingsplan gefragt. Aus diesem Grund sollten Trainer ihren Kunden die Bedeutung und den Nutzen von Beweglichkeitstraining in Bezug auf deren individuelle Situation näherbringen. Ein effektives und sicheres Krafttraining z. B. setzt voraus, dass alle Übungen technisch korrekt über die volle Bewegungsreichweite ausgeführt werden können.
Für einen Kraftsportler, der z. B. Probleme bei der technisch korrekten Ausführung einer Tiefkniebeuge hat, kann es entscheidend sein, zu wissen, dass ein Beweglichkeitstraining zur Technikverbesserung beitragen kann. Durch Beweglichkeitstraining lässt sich die Bewegungsamplitude gezielt vergrößern. Wird dabei speziell ein Muskellängentraining durchgeführt, kann zusätzlich auch über die vergrößerte Bewegungsamplitude Kraft erzeugt werden. Im Gegensatz dazu dient klassisches Dehntraining in erster Linie der Erweiterung der Bewegungsamplitude, ohne jedoch die Fähigkeit zur Krafterzeugung in diesen Positionen zu verbessern. Auch diese Information ist für Kraftsportler relevant, da sie dadurch verstehen, dass sie durch gezieltes Muskellängentraining in der tiefen Position einer Kniebeuge nicht nur beweglicher werden, sondern dort auch gezielt Kraft aufbauen können. Dies kann auch der Verletzungsprophylaxe dienen.
Ein weiterer Grund für das geringe Interesse am Beweglichkeitstraining seitens der Kundinnen und Kunden könnte darin liegen, dass sie, wie bereits erwähnt, häufig das klassische, eingelenkige Dehnen als einzige Form des Beweglichkeitstrainings kennen. Das führt dazu, dass Motivation und Freude am Beweglichkeitstraining gering ausfallen. Umso wichtiger ist es, dass Trainer über die vielfältigen Möglichkeiten und Trainingsformen aufklären.
Ein Hindernis für die Teilnahme an Beweglichkeitsangeboten wie Yoga liegt oft in der Vorstellung der Trainierenden: Komplexe Übungen und intensive Dehnungen wirken abschreckend, besonders wenn eine Grundbeweglichkeit fehlt. Nach dem Motto „Das kann ich eh nicht“ wird die Teilnahme häufig vermieden. Um dem entgegenzuwirken, sollten Trainerinnen und Trainer die Vorteile solcher Angebote klar kommunizieren und Übungen an unterschiedliche Trainingsniveaus anpassen. So können Vorurteile abgebaut und die Motivation kann gefördert werden. Dies gilt nicht nur für Yoga, sondern auch für Beweglichkeitsübungen in Zirkelformaten.
Über die Interviewpartnerin
Johanna Kummer
Die Sportwissenschaftlerin (M. Sc.) fand u. a. in der Leichtathletik ihre Leidenschaft zum Sport. Bereits während des Studiums folgten praktische Erfahrungen in Fitnessstudios sowie Therapie- und Rehaeinrichtungen. Mit weiteren Ausbildungen im Bereich Yoga folgte die Spezialisierung auf Beweglichkeitstraining. Neben ihrer Tätigkeit als Yoga-Trainerin arbeitet Johanna Kummer seit 2017 als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Trainings- und Bewegungswissenschaft der DHfPG und BSA-Akademie, u. a. als Dozentin, Autorin und Speakerin.
Foto: DHfPG/BSA
Wie gelingt es, ein Beweglichkeitstraining für die Mitglieder zuzuschneiden?
Gerade bei der Umsetzung des Beweglichkeitstrainings in Form von Muskellängentraining lässt sich eine Verknüpfung mit der bestehenden Trainingsplanung sehr einfach herstellen. Durch die Anpassung bereits bekannter Übungen aus den vorhandenen Krafttrainingsplänen müssen die Trainierenden nicht zwangsläufig neue Übungen erlernen. Dadurch entsteht ein hoher Alltagsbezug, was insbesondere im rehabilitativen Training von großem Vorteil ist. So ist die zuvor angesprochene tiefe Kniebeuge nicht nur eine Übung für ambitionierte Kraftsportlerinnen und -sportler. Eine Übung wie das Aufheben von Gegenständen vom Boden erfordert sowohl Beweglichkeit als auch Kraft – Fähigkeiten, die im höheren Alter oft nachlassen. Besonders das Aufstehen aus der tiefen Hocke stellt dann eine Herausforderung dar. Bietet man den Mitgliedern jedoch ein kombiniertes Kraft- und Beweglichkeitstraining an, können sie gezielt alltagsrelevante Trainingsziele erreichen.
Zusätzlich können Mitglieder durch visuelle Hilfsmittel wie Übungsposter oder QR-Codes, anhand derer Videos mit Anleitungen und Tipps abrufbar sind, an verschiedenen Touchpoints im Studio regelmäßig an die Übungen erinnert werden. Solche Synergieeffekte entstehen jedoch nur dann, wenn Trainer zuvor jeden Trainingsplan gezielt mit Elementen des Beweglichkeitstrainings ergänzt haben. Wie lässt sich eine Customer Journey gestalten, die den Zugang zum Beweglichkeitstraining vereinfacht und die Motivation dafür stärkt? Mithilfe der bereits erwähnten Plakate oder QR-Codes können an verschiedenen Stellen im Studio gezielt Touchpoints geschaffen werden. So lässt sich das Thema Muskellängentraining und seine Vorteile beispielsweise auch im Freihantelbereich sichtbar machen.
Zusätzlich können die Ansprache durch Trainer sowie Inhalte auf Social Media – etwa in Form von informativen Postings oder Videos zur Übungsausführung – das Thema präsent halten und seine Relevanz unterstreichen. Dabei kann auch zielgruppengerecht vermittelt werden, wie vielfältig das Angebot ist und gleichzeitig mit verbreiteten Mythen aufgeräumt werden. Insbesondere aus dem Spitzensport ist Beweglichkeitstraining als Bestandteil des Warm-ups bekannt, z. B. mit der Faszienrolle, ein Ansatz, der auch im Fitnessalltag sinnvoll integriert werden kann.
Beweglichkeitstraining als klassisches Warm-up ist vielen Trainierenden bekannt. Wie setze ich das Angebot dabei zielführend ein?
Profisportlerinnen und -sportler in den verschiedensten Sportarten wenden als Warm-up verschiedene Trainingsformen des Beweglichkeitstrainings an. Dabei gibt es verschiedene Möglichkeiten.
Generell können Dehnübungen in ein Warm-up integriert werden. Bei Sportarten mit nachfolgenden Schnell- und Explosivkraftbelastungen sollte aber unter 60 Sekunden pro Muskelgruppe vor allem dynamisch mit progressiver Vergrößerung der Bewegungsreichweite gedehnt werden. Man spricht dabei auch von Movement Preparation.
Eine alternative Trainingsmöglichkeit, die Athletinnen und Athleten für ihr Warm-up nutzen, ist der Einsatz von Kleinequipment, insbesondere Faszienrollen oder Faszienbälle. Man spricht dabei von self-myofascial release. Beide Methoden lassen sich ebenfalls effektiv in das Warm-up von Studiomitgliedern integrieren.
Welche Rolle kann Beweglichkeitstraining auch im Kontext des Trends Longevity spielen?
Bei Longevity geht es darum, gesund zu altern. Konkret heißt das aber auch, mobil im Alltag zu sein und zu bleiben. Alltägliche Situationen wie das Binden der Schuhe im Stehen können jedoch im Alter zur Herausforderung werden, denn dabei spielt die Beweglichkeit in Kombination mit Kraft und Ausdauer eine maßgebliche Rolle. Das Trendthema Longevity ist also ein weiterer Aufhänger, Beweglichkeitstraining im „Sichtfeld“ der Trainierenden zu platzieren.
Welche Aspekte können bei der Bewerbung dieses „schlafenden Riesen“ helfen, um das Bedürfnis nach Beweglichkeitstraining nachhaltiger zu wecken?
Im Kursbereich liegt ein großes Potenzial. Besonders Paragraf-20-Kurse, also zertifizierte Präventionskurse, bieten eine Möglichkeit, Beweglichkeitstraining gezielt anzubieten – allein oder in Kombination mit Krafttraining. Gruppenkonzepte eignen sich dabei ideal, um unterschiedliche Zielgruppen anzusprechen, die wiederum als Multiplikatoren wirken. Präventionskurse haben den Vorteil, dass sie aktiv von Interessierten gesucht werden oder durch Empfehlungen von Ärzten und Krankenkassen ins Blickfeld rücken. Das eröffnet wertvolle Chancen für die Vermarktung. Mit der richtigen Ansprache und einem zielgerichteten Marketing lassen sich daraus neue Mitgliedschaften generieren.
Ähnlich verhält es sich mit Formaten wie Yoga und Pilates, die durch Social Media stark an Popularität gewonnen haben und viele Menschen in die Studios ziehen. Wenn Teilnehmerinnen und Teilnehmer während und nach den Kursen gezielt angesprochen werden, sinkt die Hemmschwelle, auch außerhalb der Kurszeiten regelmäßig an Beweglichkeitstrainings teilzunehmen.
Darüber hinaus kann durch den Einsatz eines gerätegestützten Mobility-Zirkels die korrekte Übungsausführung erleichtert und die Angst vor Fehlern reduziert werden. Gleichzeitig lässt sich so die Effektivität des Beweglichkeitstrainings steigern. Bei entsprechender Kommunikation und gezielter Bewerbung dieses Angebots kann dies nicht nur bestehende Mitglieder zum Mitmachen motivieren, sondern man kann so auch neue Zielgruppen ansprechen.
Welches Plädoyer lässt sich zum Thema Beweglichkeitstraining final abgeben?
Das Training zur Verbesserung der Beweglichkeit wird oftmals noch unterschätzt und eher selten in das Training integriert. Noch immer hält sich bei verschiedenen Menschen das Vorurteil, dass Beweglichkeitstraining ausschließlich aus statischem Dehnen besteht.
Beweglichkeitstraining umfasst viele verschiedene Trainingsformen und es gibt zahlreiche Möglichkeiten, Beweglichkeitstraining attraktiv zu gestalten sowie gezielt auf unterschiedliche Zielgruppen und Bedürfnisse abzustimmen.
Meine Erfahrungen als Trainerin haben gezeigt, welchen positiven Einfluss Beweglichkeitstraining haben kann. Viele Menschen, mit denen ich zusammenarbeiten durfte, haben selbst im hohen Alter spürbare Fortschritte erzielt, die ihnen das selbstständige Handeln im Alltag deutlich erleichtert. Solche Erfolgserlebnisse sollten sowohl für Trainerteams als auch für Mitglieder Motivation genug sein, Beweglichkeitsübungen regelmäßig in den Alltag zu integrieren, um diesen nicht nur besser zu bewältigen, sondern auch mit mehr Lebensqualität zu gestalten.