Fitness, Gesundheit | Autor/in: Volker Gehrt |

Training nach Ruptur des vorderen Kreuzbandes

Die Verletzung des vorderen Kreuzbandes (VKB) führt nicht selten zum Stabilitätsverlust und birgt die Gefahr einer vorzeitigen Degeneration im betroffenen Kniegelenk. Ein rehabilitatives Aufbautraining soll Betroffenen helfen, sowohl muskuläre als auch koordinative Defizite zu beheben, wodurch die Rückkehr in ein aktives Leben erleichtert wird.

Rehabilitatives Fitnesstraining nach Verletzung des vorderen Kreuzbandes.

Mit einer geschätzten Inzidenz von 1 pro 1.000 Einwohner tritt die Verletzung des VKBs im Kniegelenk häufig auf (Schumacher, 2007, S. 1). Das Trauma ereignet sich oft bei Spielsportarten, beim Skifahren, beim Kitesurfen oder im Alltag.

Ddirekte oder indirekte Gewalteinwirkung

Durch nicht antizipierte direkte oder auch indirekte Gewalt (z. B. durch einen Gegner im Sportspiel) wirken zu hohe Kräfte auf die Bandstruktur. Bei diesen plötzlichen Rotations-, Hyperflexions- oder Hyperextensionstraumen fehlt eine optimale muskuläre Sicherung, was zur Ruptur des VKBs führt.

Hierbei kann es zusätzlich zu Begleitverletzungen, wie z. B. Meniskus- und Innenbandverletzungen (= 'Unhappy Triad') oder Mikrofrakturen (= 'Bone Bruises'), kommen (Wilke, 2004, S. 4).

Funktionsdefizite nach VKB-Ruptur

Diese Verletzung führt nicht selten zu komplexen Gelenkinstabilitäten und es drohen im weiteren Verlauf vorzeitige Gelenkdegenerationen (Arthrosen), da folgende wichtige mechanische und neurophysiologische Funktionen des ca. 3,5 Zentimeter langen VKBs (bis zu 2.200 N zugbelastbar) fehlen (Peterson & Rennström, 2002, S. 273):

Bei isolierten Streckbewegungen des Kniegelenks verhindert das VKB eine übermäßige Vorwärtsbewegung des Schienbeins (Tibia) gegenüber dem Oberschenkel (Femur), was auch als vordere Schublade bezeichnet wird. Auch wird die Knieinnenrotation bei Kniebeugung durch die Kreuzbänder limitiert (Peterson & Rennström, 2002, S. 273).


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Gerät das vordere Kreuzband unter Zugspannung, erfolgen afferente Einflüsse auf die ischiocrurale Muskulatur – bezeichnet als sogenannter VKB-Hamstring-Reflex –, mit dem Ergebnis einer gesteigerten muskulären Aktivität, insbesondere des M. biceps femoris und M. semitendinosus (Tsuda, Okamaura, Otsuka, Komatsu & Tokuya, 2001; Wilke, 2004, S. 24–25).

Gleichzeitig wird eine mäßige Hemmung der muskulären Aktivität des M. quadriceps femoris ausgelöst (Solomonow et al., 1987; Wilke, 2004, S. 25). Dies wird als eine unterstützende propriozeptive Steuerung der kniegelenkstabilisierenden Muskulatur interpretiert (Diemer & Sutor, 2018, S. 396–411).

Knie-OP insbesondere bei jungen Sportlern

Fehlen diese Funktionen, drohen koordinative Unsicherheiten, Instabilitäten und Folgeverletzungen des Kniegelenks. Aus diesen Gründen entscheiden sich insbesondere jüngere und sportlich aktive Menschen oft für eine Knieoperation, bei der das gerissene vordere Kreuzband beispielsweise durch eine Plastik aus der Sehne des M. semitendinosus oder seltener durch eine Bone-Tendon-Bone-Plastik aus der Patellarsehne ersetzt wird (Horst, Adler, Schulte-Frei & Horst, 2003, S. 372).

Operative Verfahren der Rekonstruktion – Heilungsphasen

Ob jedoch eine Operation im Vergleich zu einer konservativen Therapie tatsächlich die Funktionalität des Kniegelenkes besser gewährleisten kann, wird fachlich kontrovers diskutiert (Krause et al., 2018).

Auch ist nicht eindeutig belegt, ob durch eine Operation degenerative Erkrankungen langfristig verhindert werden (Peterson & Rennström, 2002, S. 282). Dies ist besonders dann der Fall, wenn eine zusätzliche Meniskusbeteiligung vorliegt (Rennström & Kelm, 2007).


 


Die eingesetzte Kreuzbandplastik soll in den anschließenden Heilungsphasen, insbesondere in der Proliferations- sowie der Remodellierungsphase, die mechanischen Funktionen des gerissenen Kreuzbandes nach und nach übernehmen.

Nach anfänglichem Einsprießen von Bindegewebszellen und neuen Gefäßen in das Transplantat (ca. vierte bis achte Post-OP-Woche) beginnt zunächst ein Abbau der Kollagenmatrix des Sehnentransplantats bis ca. zur zwölften Woche.

Neubildung kollagener Strukturen

Das ist gleichzeitig die instabilste Phase. Danach folgt durch die Neubildung kollagener Strukturen die Umwandlung der Sehne in ein Ersatzband

Eine vollständige Wiederherstellung der ursprünglichen Zugfestigkeit durch das Transplantat gilt jedoch als wenig wahrscheinlich (Diemer & Sutor, 2018, S. 396–411). Je nach Studie liegt die Zugfestigkeit sechs bis zwölf Monate postoperativ bei 25 bis 90 Prozent im Vergleich zu einem gesunden VKB (Kvist, 2005; Beynnon et al., 1997), wobei die 'Umbauvorgänge' insgesamt drei bis vier Jahre in Anspruch nehmen können (Aune, Hukkanen, Madsen, Polak & Nordsletten, 1996).

Transplantat ohne neurophysiologische Funktion

Auch fehlt dem Transplantat die neurophysiologische Funktion über den Reflexbogen, weshalb bleibende Stabilitätsdefizite wahrscheinlich sind (Iwasa, Ochi, Uchio, Adachi & Kawasaki, 2006).

Phasenmodell des Aufbautrainings

Das rehabilitative Aufbautraining sollte erst nach Abschluss der medizinischen Heilbehandlung und in enger Abstimmung mit den behandelnden Therapeuten – auf die individuelle Situation der Betroffenen angepasst – begonnen und von einem ausgebildeten Trainer für Sportrehabilitation überwacht werden. Das Ziel besteht in der Erhaltung und weiteren Steigerung der schon in der Therapie erreichten Fortschritte.

In den ersten beiden Phasen, die meist noch im Rahmen der medizinischen Heilbehandlung erfolgen, liegt der Schwerpunkt bis ca. zur achten Post-OP-Woche auf der Sensorik- und Propriozeptionsverbesserung und dem Bradythrophen- und Muskelausdauertraining.

Sportartspezifische Bewegungs- und Belastungsmuster

Im Sinne einer linearen Blockperiodisierung folgen direkt im Anschluss die Kraftausdauer-, Hypertrophie- und Maximalkraftphasen, die je nach Ausgangslage und Anforderung durch alltags- und/oder sportartspezifische Bewegungs- und Belastungsmuster ergänzt werden.

Während der gesamten Zeit ist ein methodisch aufeinander aufbauendes propriozeptives Training angebracht, damit die neurophysiologischen und somit die funktionellen Stabilitätsdefizite größtmöglich kompensiert werden können (Willms, 2008, S. 4).

Alle Phasen verfolgen das Ziel, eine optimale Ligamentisierung bei gleichzeitiger umfassender muskulärer und propriozeptiver Sicherung des Kniegelenks zu erreichen. Ein Ergometertraining auf dem Fahrrad, Crosstrainer oder Stepper und auch Walking sowie Laufen auf dem Laufband (ab ca. dem dritten bis vierten Post-OP-Monat) sollte begleitend erfolgen.

Indikationsspezifische Übungsauswahl

Bei allen Übungen sind übermäßig starke Band-Dehnungsreize kontraindiziert, um Schädigungen zu vermeiden. Besonders das isolierte Beinstrecken im Endstreckbereich von 0 bis 30 Grad provoziert starke Banddehnungen (Nitzsche, 2011, S. 26) und sollte zumindest acht bis zwölf Wochen postoperativ vermieden werden, wobei in der Literatur kontrovers darüber berichtet wird (Böhm, 2005; Heijne & Werner, 2007; Nitzsche, 2011). Diese Übung sollte nur in enger Abstimmung mit dem behandelnden Arzt durchgeführt werden.

Isolierte Extensionsübungen von 90 bis 60 Grad hingegen verursachen keine übermäßige Belastung auf das Transplantat, ebenso wie isolierte Knieflexionsübungen (Diemer & Sutor, 2018, S. 396–411).

Weitere wichtige Übungen, bei denen weniger das Kniegelenk gefährdende Scherkräfte auftreten, sind z. B. Kniebeugen, Frontkniebeugen, Ausfallschrittkniebeugen, Kreuzheben und Beinpressen mit limitiertem Bewegungsumfang – zunächst im Kniewinkelbereich von 0 bis 90 Grad.

Unphysiologische Belastungen verhindern

Bei diesen Übungen besteht durch die gleichzeitige Aktivität des M. quadriceps femoris und der ischiocruralen Muskelgruppe eine Mantelspannung um das Kniegelenk, wodurch unphysiologische Belastungen verhindert werden können.

Es ist bei allen Übungen unbedingt auf eine optimale Sicherung der Beinachse zu achten. Auf eine fehlende Stabilisierung der Beinachse, beispielsweise durch instabile Sprunggelenke oder eine Valgusstellung im Kniegelenk, muss aufgrund der erhöhten unphysiologischen Zug-Stress-Belastung des Kreuzbandes aktiv reagiert werden.

Dies betrifft sowohl alle Kräftigungsübungen als auch alle Übungen, die zur Wiedererlangung des statischen und dynamischen Gleichgewichts im beidbeinigen oder einbeinigen Stand auf stabilen oder labilen Untergründen zum Einsatz kommen.

Wiedereinstieg in den Sport

Ab dem sechsten bis neunten Monat nach der OP kann der Freizeitsportler langsam mit dem begleitenden sportartspezifischen Training beginnen, am besten überwacht durch einen ausgebildeten Athletiktrainer und immer erst nach Rücksprache mit dem behandelnden Arzt.

Der Wiedereinstieg in die ursprüngliche Sportart ist für einen Breiten- und Freizeitsportler nicht vor einem Jahr nach der OP empfehlenswert. Dabei sollte immer berücksichtigt werden, dass trotz Rekonstruktion und Rehabilitation die ursprüngliche funktionelle Leistungsfähigkeit des Kniegelenks nicht vollständig wiedererlangt werden kann (Rennström & Kelm, 2007).


Fazit

Ein muskuläres und koordinatives Aufbautraining nach vorderer Kreuzbandruptur hilft aktiv dabei, das Kniegelenk zu stabilisieren, bereitet optimal auf die Alltagsanforderungen vor und ist eine wichtige Grundlage für den Wiedereinstieg in den Sport.

Dies setzt allerdings entsprechendes Wissen über das Krankheitsbild sowie die zu beachtenden Besonderheiten im Heilungsprozess voraus, um das rehabilitative Training sicher und effektiv gestalten zu können.


 

Über den Autor

Volker Gehrt, Diplom-Sportlehrer, ist u. a. Dozent, Autor und Tutor an der Deutschen Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement (DHfPG) und der BSA-Akademie. Er war viele Jahre in der ambulanten Therapie tätig, bevor er 1997 eine eigene Gesundheits- und Rehasportpraxis eröffnete.


Auszug aus der Literaturliste

Diemer, F. & Sutor, V. (2018). Praxis der medizinischen Trainingstherapie ( 3., aktualisierte u. erweiterte Aufl.). Stuttgart: Thieme.
Nitzsche, N. (2011). Die Wirkung eines rehabilitativen Krafttrainings nach vorderer Kreuzbandplastik in offenen und geschlossenen Systemen. Dissertation, Technische Universität Chemnitz, Chemnitz.
Rennström, P. & Kelm, J. (2007). Vorderes Kreuzband – Operation und Rehabilitation. Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin, 58 (11), 392–394.

Für eine vollständige Literaturliste kontaktieren Sie bitte marketing@dhfpg-bsa.de.

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