Gesundheit, Management | Autor/in: Anke Mächler & Prof. Dr. Julia Krampitz |

Gesundheitliches Krisenmanagement (Teil 2): Achtsamkeit im Umgang mit sich selbst und anderen

Durch Achtsamkeit erlernt man einen Zugang zu den eigenen Gedanken, Gefühlen und Körperempfindungen, der urteilsfrei und nicht wertend ist. In Teil 2 der Reihe 'Gesundheitliches Krisenmanagement' klären Anke Mächler und Prof. Dr. Julia Krampitz über den richtigen Umgang mit sich und seinem Umfeld insbesondere während der Corona-Pandemie auf.

Gesundheitliches Krisenmanagement (Teil 2)

Achtsamkeit ist die Kompetenz, die uns hilft, eingefahrene Entscheidungsmuster und Handlungen zu verändern und damit auch die eigenen Persönlichkeitsdimensionen und Verhaltensautomatismen zu ergründen.


„Das Glück deines Lebens hängt
von der Beschaffenheit deiner Gedanken ab.“

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Marc Aurel, römischer Kaiser und Philosoph


Um von Achtsamkeit zu profitieren, bedarf es jedoch Übungsdisziplin und dem Kreieren und Befolgen von gewissen Regeln. Da Erfolgsfaktoren und Stolpersteine zugleich Teil einer achtsamen Entscheidungspraxis sind, gilt es, diese näher zu erläutern und die Stolpersteine bewusst zu vermeiden.


Definition von Achtsamkeit

„Sind wir achtsam, ist unsere Aufmerksamkeit nicht in Vergangenheit oder Zukunft verstrickt, und wir urteilen oder weisen nicht zurück, was im Moment geschieht. Wir sind präsent.“ (Germer, 2009, S. 17)

„Der Begriff 'Achtsamkeit' meint die bewusste Lenkung der eigenen Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Augenblick, verbunden mit einer nicht wertenden Grundhaltung und der Bereitschaft, nicht sofort und automatisch auf das Wahrgenommene zu reagieren.“ (Amberg, 2016, S. 15).


Komponenten der Achtsamkeit

1. Bewusste Aufmerksamkeitslenkung

Das menschliche Bewusstsein kann aus der umgebenden Wirklichkeit gezielt einzelne Wahrnehmungsinhalte fokussieren. Dabei geht es in der Achtsamkeit darum, dass immer wieder eine Balance zwischen der Konzentration auf den Inhalt und der offenen Aufmerksamkeit für das 'Drumherum' des gegenwärtigen Augenblicks hergestellt wird. Herausfordernd ist, das wahrzunehmen, was außerdem noch zu diesem gegenwärtigen Augenblick gehört, ohne sich darin zu verlieren. Hier liegt ein wesentlicher Unterschied zwischen Konzentration und Achtsamkeit.

2. Gegenwärtigkeit oder Präsenz

Jon Kabat-Zinn hat vor fast 40 Jahren das Konzept MBSR 1 (Mindfulness-based Stress Reduction) entwickelt, in dem er die Aufgabe, „sich mit der Aufmerksamkeit im gegenwärtigen Augenblick einzufinden“, implementiert hat. Er nennt es „einfach, aber nicht leicht“ (Kabat-Zinn, 2010, S. 21).

3. Akzeptanz

Eine weitere Herausforderung, die Achtsamkeit mit sich bringt, ist die Akzeptanz dessen, was in den bewussten Wahrnehmungsraum kommt, ohne es zu bewerten – es neutral aufzunehmen.

4. Inneres Beobachten

Ständig produziert das menschliche Bewusstsein Aktivitäten – Gedanken, Gefühle oder Handlungsimpulse. Hinter der Komponente 'inneres Beobachten' verbirgt sich die Fähigkeit, die eigenen Aktivitäten in Echtzeit wahrzunehmen und diese zu reflektieren.

5. Mitgefühl

Das Mitgefühl als weitere Komponente begründet die achtsame Haltung. Schon im menschlichen Bewusstsein wird die Möglichkeit verankert, sich selbst mitfühlend, anteilnehmend und wohlwollend wahrzunehmen.

Abb. 1: Der gegenwärtige Augenblick (modifiziert nach Amberg 2016, S.16)

Umsetzung in die Praxis

Wie kann dieses theoretische Wissen in die Praxis umgesetzt werden? Die Vermittlung und Kultivierung von Achtsamkeit erfolgt auf der Basis einer intensiven Schulung in Meditationspraktiken, sowohl formell als auch informell.

Bei der formellen Achtsamkeit, meist als Meditation bezeichnet, wird die Aufmerksamkeit auf ein Objekt (den Atem und/oder die Körperempfindungen) oder einen Moment gerichtet ('choiceless awareness', deutsch: 'unvermeidliche Bewusstheit') (Michalak, Heidenreich, Williams & Mark, 2012, S. 246).

Achtsamkeit, verstanden als innere Haltung, erschließt neue Zugänge, um die Wirklichkeit umfassender und differenzierter wahrzunehmen und so für die Gestaltung des eigenen Handelns eine neue Basis zu finden (Amberg, 2016, S. 27).

Obwohl Achtsamkeit als Möglichkeit im menschlichen Bewusstsein angelegt ist, muss sie zur Entfaltung des vollen Potenzials geübt werden. Es werden formelle und informelle Übungen unterschieden.

Die formellen Übungen haben eine definierte Form, eine umgrenzte Aufgabe und einen vorgesehenen Zeitrahmen. Um die Fähigkeit der Achtsamkeit auf verschiedenen Ebenen zu schulen und zu vertiefen, muss regelmäßig 'trainiert' werden. Wird der Achtsamkeit im Alltag kontinuierlich Raum und Zeit gewidmet, stellt sich eine bereichernde Gewohnheit ein. Selbstkontrolle und Selbststeuerung werden gestärkt (Galla & Duckworth, 2015).

Formelle Achtsamkeitsübungen:

  • Achtsames Atmen: In einem gewählten Zeitraum von wenigen Atemzügen bis zu einer halben Stunde geht es ausschließlich um die Aufgabe, das Kommen und Gehen des eigenen Atems zu beobachten; die Atemaktivität wird dabei nicht willentlich beeinflusst. Die Aufmerksamkeit wird immer wieder neu auf den Atem und die Eigenaktivität gelenkt. 'Achtsames Atmen' stellt eine grundlegende Übung dar (Michalak et al., 2012, S. 50).
  • Achtsame Körperwahrnehmung: Neben dem Atem stellt der eigene Körper eine weitere wichtige Möglichkeit dar, sich mit der eigenen Aufmerksamkeit im gegenwärtigen Augenblick einzufinden (Kabat-Zinn & Kappen, 2013, S. 126). Eine klassische Übung zur Körperwahrnehmung ist der Bodyscan.

Informelle Achtsamkeitsübungen:

Alles, was sich benennen oder auch nur fühlen lässt, kann zum Gegenstand von Achtsamkeit werden. So wird jedes Tun und jedes Erlebnis durch Achtsamkeit intensiviert. Es kann lebendiger, strahlender und wirklicher werden. Die Zunahme an Klarheit und Fülle, wie man es beim Bodyscan, in der Geh- oder Sitzmeditation oder beim Yoga erlebt, lässt sich ebenfalls in den Aktivitäten des Alltages erfahren (Kabat-Zinn & Kappen, 2013, S. 226).

Informelle Achtsamkeit ist die Anwendung achtsamer Aufmerksamkeit im Alltag. Achtsames Essen und achtsames Gehen sind Beispiele für informelle Achtsamkeitsübungen. Tatsächlich kann jede alltägliche Aktivität das Objekt informeller Achtsamkeitspraxis sein (z. B. achtsam Zähne putzen, achtsam Auto fahren, achtsam bügeln, achtsam telefonieren).

Bewusster Umgang mit Gedanken und Gefühlen als Herausforderung

Eine der größten Herausforderungen, die die Achtsamkeit mit sich bringt, ist die Akzeptanz von allem, was in den bewussten Wahrnehmungsraum kommt, ohne es zu bewerten und ohne darauf reflexartig und automatisiert zu reagieren (Nicht-Reaktivität): ganz gleich, ob es sich um ein schönes Kompliment oder die sarkastisch-feindselige Bemerkung eines Kollegen handelt; um einen neuen Auftrag oder die destruktive Kritik eines Bestandskunden – Akzeptanz heißt, die Realität wahrzunehmen und anzunehmen.

Damit ist allerdings keineswegs eine passiv-fatalistische Haltung gemeint, sondern vielmehr eine radikale und wache Hinwendung zur Realität, die einhergeht mit der Bereitschaft, auf Bewertungen, Dramatisierungen und auch Beschönigungen zu verzichten, die eine klare Wahrnehmung erschweren oder verhindern können.

Eine solch achtsame Bestandsaufnahme der Situation, der Umstände und auch des eigenen Umgehens damit stellt die unverzichtbare Grundlage dar, um fundierte Entscheidungen treffen und zukunftsfähige Lösungen und Veränderungen entwickeln zu können

Effekte

Folgende Effekte lassen sich durch regelmäßiges Achtsamkeitstraining erzielen:

  • Bewusste Aufmerksamkeitslenkung bedeutet eine Musterunterbrechung: Die bewusste Entscheidung, die Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Augenblick zu lenken, unterbricht gewohnheitsmäßige, unreflektierte Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsströme. Diese Musterunterbrechung ist die Basis, um neuen Möglichkeiten Raum zu geben.
  • Bewusstes Nichtstun unterstützt eine Beruhigung des Geistes
  • Inneres Beobachten ermöglicht vertiefte Selbsterkenntnis und Einsicht in die eigenen Gedanken, Gefühle, Bedürfnisse und Motivationszusammenhänge. 
  • Wahrnehmen der Realität erweitert und vertieft die Welt- und Selbsterkenntnis und ermöglicht einen Einblick in die Zusammenhänge zwischen dem Selbst und der Welt. 
  • Förderung in Kombination mit freundlicher Neugier und wohlwollender Akzeptanz, der Entwicklung eines unvoreingenommenen Blickes auf das, was ist, in Kombination mit freundlicher Neugier und wohlwollender Akzeptanz.
  • Wohlwollende Akzeptanz ohne Verurteilung fördert Veränderungsbereitschaft: 'So ist es jetzt' bildet eine tragfähige Grundlage, um Veränderungen bewusst und mit Zuversicht zu gestalten.
  • Gegenwärtigkeit stärkt die Verantwortung für das eigene Tun und fördert so die Selbststeuerung.
  • Mitgefühl unterstützt sowohl Einfühlung in andere als auch einen wohlwollend ermutigenden Umgang mit sich selbst. Ebenso ermöglicht es Erfahrungen der Verbundenheit und fördert die achtsame Gestaltung von Kommunikation.   

Achtsamkeit und Führung in der Arbeitswelt

Zunehmende Dynamik und Komplexität in Wirtschaft und Gesellschaft führen zu abnehmender Vorhersagbarkeit von Entwicklungen und machen ein neues Verständnis und eine neue Gestaltung von Führung notwendig. Damit dies gelingt, sind folgende Punkte in den Überlegungen zu berücksichtigen:

  • Um Führung unter diesen Rahmenbedingungen angemessen gestalten zu können, ist die Entwicklung von Selbstkompetenz ebenso notwendig wie die Entwicklung von Beziehungs- und Veränderungskompetenz.
  • Achtsamkeit als bewusste, nicht-reaktive Lenkung der eigenen Aufmerksamkeit auf das, was gerade ist, stellt eine zentrale Kompetenz dar, um konstruktiv mit Unerwartetem umzugehen.
  • Achtsamkeit stellt ein Potenzial des menschlichen Bewusstseins dar, das mit kontinuierlicher Übung erschlossen und weiterentwickelt werden kann, damit es im Ernstfall des Alltags zur Verfügung steht.

Achtsamkeit als innere Haltung zu pflegen unterstützt Führungskräfte darin, ihre Selbst-, Beziehungs-, und Veränderungskompetenz zu entwickeln und damit das Führungshandeln bewusst zu gestalten.

Fazit

Zusammengefasst lässt sich Achtsamkeit als zentrale Basiskompetenz verstehen, um eingefahrene Muster bei Entscheidungen und Handlungen zu verändern. Durch Achtsamkeit wird eine nicht-bewertende Grundhaltung zu den eigenen Gedanken, Gefühlen und Körperempfindungen ermöglicht (Schrör, 2016). Dies führt zu einer gesunden Selbstreflexion der eigenen Persönlichkeit wie auch der eigenen Verhaltensautomatismen.

Durch das bewusste Wahrnehmen versetzt uns Achtsamkeit in die Lage, auch in stressigeren Situationen des Berufs- und Privatalltages aktives Handeln mit bewusster Nutzung aller inneren Ressourcen umzusetzen. Zu beachten ist, dass Achtsamkeit Übungsdisziplin und eine Einhaltung von gewissen Regeln erfordert, die jedoch einfach umzusetzen sind.


„Das größte Geschenk der Achtsamkeitspraxis besteht darin,
dass sie mir in jedem Moment ermöglicht, mein Leben zu ändern,
indem ich meine Geisteshaltung ändere.“

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Doris Kirch


Die BSA-Akademie bietet zusätzlich ein umfangreiches Weiterbildungsangebot im Bereich Mentale Fitness und Entspannung.

Über die Autorinnen

Anke Mächler war nach ihrem Sport- und Germanistik-Studium viele Jahre als Geschäftsführerin und Inhaberin eines BGM/BGF-Dienstleistungsunternehmens tätig. Heute gibt sie ihre Erfahrung als BGM-Beraterin und Dozentin an der der Deutschen Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement (DHfPG) und der BSA-Akademie weiter.

Prof. Dr. Julia Krampitz, Doctor of Public Health und M. A. Prävention und Gesundheitsmanagement, ist als Professorin für den Fachbereich Psychologie/Pädagogik an der Deutschen Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement (DHfPG) tätig. Julia Krampitz fungiert außerdem als Fachautorin und gefragte Expertin in den Medien.

Serie 'Gesundheitliches Krisenmanagement'

Lesen Sie auch die anderen Serienartikel der dreiteiligen Reihe 'Gesundheitliches Krisenmanagement':

Teil 1 mit Anke Mächler und Prof. Dr. Julia Krampitz 'Hilfe zur Selbsthilfe' und
Teil 3 mit Tanja Linhard 'Alternative Beschäftigungsmöglichkeiten für Kinder'.

Noch mehr Content der DHfPG-Experten

Diese beiden Artikel bieten weiteren spannenden Input und Impulse, damit Sie trotz Stress und Belastungen mental und körperlich immer auf der Höhe bleiben.


Literaturliste

Amberg, M. (2016).Führungskompetenz Achtsamkeit. Wiesbaden: Springer essentials.
Hölzel, B. & Brähler, C. (2015).Achtsamkeit mitten im Leben. Anwendungsgebiete und wissenschaftliche Perspektiven. München: O.W. Barth.
Kabat-Zinn, J. (2010). Im Alltag Ruhe finden. Das umfassende praktische Meditationsprogramm (5. Aufl.). Freiburg im Breisgau: Fischer.
Kabat-Zinn, J. & Kappen, H. (2013).Gesund durch Meditation. Das große Buch der Selbstheilung mit MBSR (vollst. überarb. Neuauflage). München: Knaur.
Michalak, J., Heidenreich, T., Williams, J. & Mark, G. (2012).Achtsamkeit: Fortschritte der Psychotherapie. Band 48. Göttingen: Hogrefe.